Beitrag von Nils Greve erschienen in Soziale Psychiatrie 2/2006
Die Themen Beziehungsarbeit und Strategien zu ihrer Existenz- und Qualitätssicherung stehen im Mittelpunkt der DGSP-Jahrestagung 2005. Mein Beitrag gilt einer solchen Sicherungsstrategie, und zwar aus der Sicht und der Interessenlage der »Leistungserbringer«. Ich möchte dazu zwei Vorschläge machen:
- die Beteiligung an der Gründung gemeindepsychiatrischer Verbünde und der von der Aktion Psychisch Kranke (APK) vorgeschlagenen Bundesarbeitsgemeinschaft dieser Verbünde sowie
- die Fort- und Weiterbildung der professionellen Helfer aller Berufsgruppen in therapeutischer Beziehungsgestaltung.
Umsetzung der Psychiatriereform:
»Stand der Dinge«
Die verbundförmige Organisation aller Hilfen gilt schon seit der Psychiatrie-Enquete des Deutschen Bundestages (1975) und den Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung (1988) als Qualitätsstandard der Gemeindepsychiatrie. Gemeint ist damit aber nicht nur eine Anhäufung von Hilfeangeboten in jeder Region, sondern darüber hinaus eine Vernetzung individuell passgenauer Hilfen, die idealtypisch »aus einer Hand« erbracht werden sollten, um psychisch kranken Menschen mit schweren Beeinträchtigungen Beziehungswechsel und -abbrüche so weit wie möglich zu ersparen. Möglichst kontinuierliche Beziehungen zwischen Helfern und Klienten sind also ein wichtiges Qualitätskriterium.
Inwieweit haben wir dieses Ideal verwirklicht? Zunächst hat die Psychiatriereform einerseits die Anstalten humanisiert und andererseits gemeindepsychiatrische (aus Kliniksicht »komplementäre«) Angebote aufgebaut. Diese sind – je nach den Besonderheiten in den Regionen – mehr oder weniger vernetzt oder gar verbundförmig organisiert.
Am leichtesten gelingt naturgemäß die Vernetzung von Angeboten innerhalb eines Trägers. Ansonsten war (und ist) die Kooperation zwischen einzelnen Leistungserbringern stark personenabhängig. Die Einrichtungen hatten bisher wenig Druck, sich miteinander zu Verbünden zusammenzufinden. ln vielen Regionen verstehen sie sich eher als Konkurrenten (»Mitbewerber«), oder die Angebote laufen nebeneinander her.
Immerhin gibt es aber in manchen Regionen schon seit langem »Gemeindepsychiatrische Verbünde« (GPV) unterschiedlicher Zusammensetzung z. B. in Niedersachsen.
Nahezu nirgends ist allerdings die Trennung in drei »psychiatrische Welten« überwunden: Gemeindepsychiatrie, Krankenhauspsychiatrie (ob Anstalten oder Abteilungen) sowie niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten sind zwar in sich oft durchaus vernetzt, haben aber miteinander in den meisten Regionen allenfalls oberflächliche Kooperationsbeziehungen, die von einer verbunförmigen Vernetzung weit entfernt sind.
Personenzentrierte Hilfeplanung:
das Hase-und-Igel-Spiel
In dieser Landschaft hat das Konzept der »personenzentrierten Hilfeplanung« – der Grundgedanke, die erforderlichen Hilfen an die Situation der einzelnen Klienten anzupassen, statt diese an die vorhandenen Hilfen – erheblichen Schwung gebracht.
Ich war überrascht, wie stark dieser Impuls der Aktion Psychisch Kranke bundesweit aufgegriffen worden ist – als hätten wir darauf gewartet! Offensichtlich gibt es bei den Leistungserbringern ein großes Interesse, die Hilfen überall klientengerecht und damit notwendigerweise verbundsförmig anzubieten. Im Gefolge der Bundes- und der Ländermodellprogramme sind in vielen Regionen Verbundstrukturen entstanden oder gestärkt worden, teils als regelrechte Institutionen, teils auf der Grundlage von Kooperationsvereinbarungen oder im Zusammenhang mit der Errichtung von Hilfeplankonferenzen.
Leider beschränken diese Verbundsstrukturen sich bisher weitgehend auf den Bereich der sozialhilfefinanzierten Leistungen, vor allem der Eingliederungshilfe. Eine Integration der regional zuständigen Kliniken oder gar der Kassenärzte und -psychotherapeuten ist kaum verwirklicht, vielfach sind auch die Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben unzureichend integriert.
Allerdings haben auch die »Leistungsträger« den Impuls der personenzentrierten Hilfeplanung aufgegriffen und – wiederum vor allem im Bereich der Eingliederungshilfe – ihre Macht eingesetzt, um den Leistungserbringern diese gemeinsame Hilfeplanung und in unterschiedlichen Maße auch verbundförmige Strukturen vorzuschreiben.
Aus der Perspektive des Rheinlands (vermutlich tritt das aber auch für andere Regionen zu) ist der Leistungsträger (Landschaftsverband Rheinland als überörtlicher Sozialhilfeträger überall dort tätig geworden, wo es die Leistungserbringer aus eigener Kraft nicht geschafft hatten, sich eine regionale Verbundstruktur zu geben. Insofern spiegeln die Aktionen der Leistungsträger unsere Versäumnisse auf der Leistungserbringerseite wider.
Die Leistungsträger haben diese Umstrukturierung mit sehr unterschiedlichem fachlichem Ehrgeiz betrieben, und es ging ihnen auch keineswegs nur um eine Verbesserung der Versorgung, sondern mindestens ebenso sehr um eine Senkung oder wenigstens Begrenzung ihrer Kosten. Das mag man bedauern, aber aus der Sicht der Leistungsträger ist eine Kostenreduktion wegen der demografischen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen unvermeidlich. Das gilt für die Kassen ebenso wie für die örtlichen und überörtlichen Sozialhilfeträger.
Einige weniger zwingende Faktoren kommen allerdings hinzu – bei den Kassen beispielsweise die große Lobbymacht der Geräte- und Pharmaindustrie (gekürzt wird jeweils da, wo der Widerstand am geringsten ist), im Sozialhilfebereich die Konkurrenz mit anderen Bereichen stattlicher Ausgaben angesichts der Knappheit öffentlicher Mittel – aber selbst wenn alle diese Zusatzbedingungen wegfielen, müssten wir uns langfristig darauf einstellen, dass unsere Geldgeber unter starkem finanziellen Druck stehen und diesen zumindest teilweise an uns weitergebe.
Gleichwohl gibt es - wie schon erwähnt - große Unterschiede zwischen ihnen darin, inwieweit sie auf nackte Kostenreduktion setzen oder auf qualitative Innovationen. Es gibt durchaus Kostenträger, die den Ehrgeiz haben, ihre Steuerungsmacht zu einer Verbesserung der Struktur- und Prozessqualität einzusetzen, zum Beispiel durch Umwandlung von Heimplätzen in ambulant betreutes Wohnen, in der Hoffnung, damit die Quadratur des Kreises zu schaffen: Verbesserungen für die Klienten bei gleichzeitiger Senkung der Kosten. Klaus Dörner lässt grüßen: »Aus leeren Kassen Kapital schlagen!«
Die Leistungsträger haben die ihnen zur Verfügung stehenden – übrigens sehr begrenzten – Steuerungs- und Kontrollmittel eingesetzt, um ihre Ziele durchzusetzen: Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen, Hilfemanuale, Oualitätskontrollen und andere Arten von »Vorschriften«, wie die von ihnen finanzierten Leistungen zu erbringen sind.
Das hat bei den Institutionen der Leistungserbringer und ihren Mitarbeitern zu Abwehrbewegungen geführt, die sich unter anderem in den »Soltauer Impulsen« niedergeschlagen haben. Kritisiert werden dort unter anderem die Bürokratisierung der Arbeit, eine vom lebendigen Menschen entfremdete Hilfeplanung sowie die Ausgrenzung eines Teils der hilfebedürftigen Menschen durch hochschwellige Prozeduren.
Ohne Zweifel beschreibt diese Kritik – wenn auch meines Erachtens pauschalierend und einseitig – Vorgänge, die wir täglich erleben. In der Tat sind die Papierkriege und Überwachungsmechanismen für uns ein ständiges Ärgernis, sie sind häufig inadäquat, und sie hindern uns, Zeit für unsere Klienten zur Verfügung zu stellen.
Übrigens sind wir da in guter Gesellschaft mit anderen, die zu Lasten der Sozialversicherung unter ständig wachsendem Druck und wachsenden sachfremden Anforderungen versuchen, für Hilfebedürftige so gut wie möglich da zu sein – die Ärzte und Pflegekräfte in Krankenhäusern beispielsweise sind in einer gleichartigen, womöglich noch extremeren Lage.
Ich will auf diese Diskussion nicht ausführlich eingehen, sie war ja erst kürzlich das Thema einer DGSP-Tagung und der letzten Ausgaben der »Sozialen Psychiatrie«. Nur ein Punkt ist mir in diesem Zusammenhang wichtig: Abwehrkämpfe werden wir verlieren! Dafür gibt es mehrere Gründe:
Erstens: Unsere bisherige Praxis legitimiert uns nicht immer und überall, die Qualität gemeindepsychiatrischer Hilfen genügt keineswegs durchweg den Qualitätsanforderungen. Sie hat sich wildwüchsig auf höchst unterschiedlichem Niveau entwickelt.
Zweitens: Die Leistungsträger sind – wie schon erwähnt – unter großem finanziellen Druck, sie haben also weniger Handlungsspielraum auf der Ausgabenseite, als wir uns wünschen , und können darum auf eine Kontrolle der eingekauften Qualität nicht mehr so wie früher weitgehend verzichten.
Drittens: Dokumentation, Leistungsvereinbarungen, Hilfepläne usw. sind als Steuerungs- und Kontrollinstrumente durch den bloß postulierten »guten Willen« der Leistungserbringer nicht zu ersetzen. Wir waren in der Szene der gemeindepsychiatrischen Hilfsvereine hinsichtlich der Qualität unserer Leistungen bisher ja praktisch unkontrollierbar für unsere Geldgeber – wie übrigens die Krankenhäuser und die Vertragsärzte auch.
Übrigens sehe ich uns da auch so überall in Feindesland, als verteidigten wir das letzte gallische Dorf. Es gibt bei Politikern, staatlichen Verwaltungen, Kostenträgern und Verbänden durchaus handelnde Personen, deren Ziele mit unseren weitgehend übereinstimmen. Sie nutzen eben ihre Steuerungs- und Einflussmöglichkeiten – und die sind unserer Arbeit oft nicht angemessen, sondern führen zu Vorgaben und Kontrollen, die unvermeidlich manchmal sachfremd sind.
Meine Schlussfolgerung daraus lautet: Wir bekommen das Heft des Handelns nur (wie der) in die Hand, wenn wir eine eigene Qualitätsinitiative ergreifen und uns nicht auf Abwehrreaktionen beschränken, so berechtigt sie auch immer sein mögen.
Zur genaueren Bestimmung einer solchen Offensive möchte ich die Interessen der beteiligten Gruppierungen aus meiner Sicht in einem kurzen Überblick zusammenfassen.
Die Klienten, vor allem stark beeinträchtigte Menschen mit komplexem Hilfebedarf, haben aus meiner Sicht einen Bedarf an passgenauen Hilfen. Stichworte hierzu: personenzentrierte Hilfeplanung, verbundförmig erbrachte Hilfen, kontinuierliche Beziehungen.
Die Leistungsträger haben, wie schon dargestellt, ein Interesse an sinkenden Ausgaben und gleichzeitig an besserer Qualität (was auch immer sie jeweils damit meinen). Im schlechtesten Fall versuchen sie, dieses Ziel durch Preiskrieg und rigide Kontrollen zu erreichen, im besten Fall (unter anderem) durch Ambulantisierung von Hilfen und verbesserte Organisationsstrukturen (GPV!).
Die Einrichtungen und Dienste der Leistungserbringer haben zunächst für ihre Existenzsicherung zu sorgen, beispielsweise durch Verbesserung ihrer Erträge, Senkung der Kosten oder Steigerung der Arbeitseffizienz. Im schlechtesten (aber gelegentlich unvermeidlichen) Fall versuchen sie, dies durch Erhöhungen der Leistungsanforderungen oder Senkung der Vergütungen zu erreichen, andere – günstigere – Strategien sind etwa eine Angebotserweiterung zur Überwindung störanfälliger Monokulturen oder eine stärkere Thema einer DGSP-Tagung und der letzten Meine Schlussfolgerung daraus lautet: Wir Vernetzung der Angebote, um Synergieeffekte auszunutzen.
Die Mitarbeiter haben naheliegenderweise eine Interesse an sicheren Arbeitsplätzen, einer sicheren tariflichen Vergütung, angemessenen Arbeitsanforderungen und einer befriedigenden Arbeit. Etliche Autoren in diesem Heft befassen sich ausführlich mit dieser Thematik, etwa Jürgen Lempert-Horstkotte (siehe S. 24) und Gabriele Dinkhoff-Awiszus (siehe S. 30).
Die dargestellten Partikularinteressen der Beteiligten sind höchst unterschiedlich – aber sind sie in jedem Fall unvereinbar?
Gemeindepsychiatrische Verbünde:
die Chance jetzt nutzen!
Ich bin der Auffassung, dass wir in der jetzigen Situation Schritte tun können – und sollten! –, die dieser komplexen Situation gerecht werden.
Auf der strukturellen Ebene (auf die Beziehungsgestaltung gehe ich anschließend ein) sehe ich unsere Chance darin, die verbundförmige Organisation der Hilfen in der Regionen voranzutreiben.
Sie ermöglicht den Klienten individuell passgenaue (personenzentrierte) Hilfen. Die Leistungsträger erhalten bessere Qualität (potenziell) geringeren Kosten, jedenfalls aber langfristig zu geringeren Fallkosten. Die Leistungserbringer gewinnen gegenüber den Kostenträgern an Boden durch bessere Qualität, gemeinsames und einheitliches Auftreten sowie eine geringere Konkurrenz untereinander, und sie können durch Kooperation und Vernetzung effizienter arbeiten. Aber all das geht keineswegs unvermeidlich auf Kosten der Mitarbeiter, die sich dafür nicht »totarbeiten« müssen!
Zwar haben manche Veränderungen der letzten Zeit in vielen Einrichtungen zur stärkerer Arbeitsbelastung der einzelnen Mitarbeiter geführt, etwa das System der Fachleistungsstunden oder die Deckelung der Krankenhausbudgets; aber ich sehe darin nicht eine notwendige und unvermeidliche Folge der Einführung von personenzentrierter Hilfeplanung und gemeindepsychiatrischen Verbundstrukturen, auch wenn wegen der Gleichzeitigkeit der Einführung dieser Eindruck entstehen könnte.
Die Voraussetzungen für den Aufbau gemeindepsychiatrischer Verbünde sind in mehrfacher Hinsicht günstig:
§ Es gibt eine langjährig gesicherte fachliche Argumentationslage (Enquete, Expertenkommission).
§ Aus den sozialrechtlichen Reformen der letzten Jahre ergeben sich Ansatzpunkte für verbundförmige Finanzierungen: Integrierte Versorgung (allerdings beschränkt auf Kassenleistungen), persönliches Budget (bisher noch in den Kinderschuhen, aber strukturell auf verbundförmige Leistungserbringungen angelegt) oder regionales Psychiatriebudget (Modellprojekt im Kreis Steinburg, dort allerdings beschränkt auf den Krankenhausbereich) könnten einen Einstieg bilden.
§ Angesichts der gefährdeten Erträge liegt es im Interesse der Leistungserbringer, nicht in wachsender Konkurrenz nach dem Motto » Teile und herrsche « am Markt zerrieben zu werden, sondern sich zusammenzuschließen und ihre Beziehungen untereinander durch personenzentrierte Hilfeplanung, Hilfeplankonferenzen ,Verbundverträge und fallbezogene Zusammenarbeit zu verbessern: Kooperation statt Konkurrenz.
§ Leistungserbringer mit Monostrukturen im Leistungskatalog bekommen zunehmend finanzielle Schwierigkeiten: Beispiele sind etwa die von Auszehrung und Privatisierung bedrohten Krankenhäuser oder von Kürzungen nach dem Rasenmäherprinzip bedrohte Träger von Wohnheimen. Es gibt daher ein zunehmendes Interesse an Ausweitung und Diversifizierung der Angebote, und das könnte entweder zu verschärfter Konkurrenz und 'wildern in fremden Terrains oder zum Zusammengehen bisher unverbundener Einrichtungen führen.
Aus diesen Überlegungen sehe ich über die Vernetzung gleichartiger Angebote (Eingliederungshilfe) auch mittelfristig durchaus Möglichkeiten, die schon erwähnte Dreigliederung der psychiatrischen Landschaft zumindest ansatzweise zu überwinden. Das betrifft vor allem die verstärkte Vernetzung zwischen Krankenhaus- und Gemeindepsychiatrie.
Insgesamt fallen meines Erachtens Aspekte der Qualitätssicherung und -verbesserung mit Lobbyinteressen der Leistungserbringer zusammen in Richtung auf die Bildung gemeindepsychiatrischer Verbünde in allen geeigneten Regionen und die nun endgültig für März 2006 vorgesehene Gründung der Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrischer Verbünde (BAG GPV)*.
Beziehungsarbeit: die unterschätzte
dritte Ebene
Noch einmal zurück zum Anfang meines Beitrags: Was macht die »Qualität« von Verbundleistungen aus? Alle Hilfearten sollen möglichst in der Region vorgehalten und für Klienten verfügbar sein, aber nicht nur nebeneinander her, sondern miteinander verbunden, soweit erforderlich, »aus einer Hand«.
Um verbundförmige Leistungen zu erbringen, müssen Schritte auf drei Ebenen getan werden:
1. Eine regionale Steuerung (die Aktion psychisch Kranke spricht hier vom »Gemeindepsychiatrischen Steuerungsverbund«) hat da für zu sorgen, dass alle Hilfen bedarfsgerecht vorgehalten werden, Angebotslücken geschlossen und unangemessene Überkapazitäten vermieden bzw. abgebaut werden.
2. Der Zusammenschluss der wesentlichen Leistungserbringer (»Gemeindepsychiatrischer Leistungsverbund« der Aktion psychisch Kranke) plant gemeinsam und personenzentriert die individuell erforderlichen Hilfen und erbringt sie im Verbund.
3. In jedem Einzelfall, das heißt konkret mit jedem einzelnen Hilfesuchenden und seinem privaten Umfeld, leisten die beteiligten professionellen Helfer gemeinsam Beziehungsarbeit. Einige Stichworte für Ziele und Gütekriterien dieser Beziehungsarbeit könnten sein: Beziehungskontinuität, Empowerment, Ressourcen- und Lösungsorientierung, Vermeidung und Abbau von Chronizität.
Dieser dritte Aspekt wird aus meiner Sicht noch viel zu wenig beachtet. Es fehlt an einer systematischen Erarbeitung und Umsetzung von Qualitätsstandards zur Qualifikation der beteiligten Mitarbeiter für diese im weiteren Sinne therapeutische Gestaltung helfender Beziehungen. Das betrifft Vier-Augen-Kontakte ebenso wie Angehörigen- und Familiengespräche, Helferkonferenzen mit oder ohne Beteiligung der Klienten – kurz die professionelle Mitwirkung an helfenden Gesprächen aller Art, wie sie 15.000 Exemplare gerade in der Gemeindepsychiatrie in vielfältigen Formen vorkommen.
Dabei können wir von dem Ansatz der »bedürfnisangepassten Behandlung« in Skandinavien lernen, dass erst die Kombination von Gemeindepsychiatrie und Psychotherapie zu überzeugenden Ergebnissen führt. Dort haben die teilnehmenden Regionen, vor allem in Finnland und Schweden, gleichzeitig gemeindepsychiatrische, vorwiegend ambulant-zugehende Organisationsstrukturen ihrer professionellen Teams und die aufwändige therapeutische Basisqualifikation aller beteiligten Mitarbeiter aufgebaut und legen beeindruckende Behandlungsergebnisse vor (vgl. Aderhold u.a. 2003, Aderhold/Greve 2004).
Um ein Bild von Klaus Nouvertné zu benutzen: Während die deutsche Psychiatriereform sich traditionell um die Schaffung von »Waben« (Institutionen) bemüht, hat sie die Qualität des »Honigs« (der helfenden Beziehungen) relativ stiefmütterlich behandelt – ganz im Gegensatz zum finnisch-schwedischen Modell.
Nur in wenigen Regionen Deutschlands gibt es bereits Weiterbildungen mit dem Ziel therapeutischer (Basis-) Qualifikationen für professionelle Helfer aller Berufsgruppen. Diese Beispiele sollten wir aufgreifen und in möglichst vielen Einrichtungen und Regionen umsetzen.
In der DGSP werden übrigens beide Problemstellungen, auf die ich in diesem Beitrag eingehe, bereits thematisiert. Im Fachausschuss Psychotherapie haben wir die therapeutische Qualifizierung nach skandinavischem Vorbild (und dem einiger deutscher Regionen, z.B. Hannover) seit langem diskutiert, und ein Fachausschuss Gemeindepsychiatrische Verbünde ist bei der DGSP-Jahrestagung im November 2005 vorbereitet worden.
Nur wenn die Leistungserbringer und ihre Mitarbeiter sich »proaktiv« verhalten – zum Beispiel mit den vorgeschlagenen Initiativen – haben sie eine Chance, ihren gestaltenden Einfluss auf die Entwicklung der Psychiatrie in unserem Land zu erhalten und zu vergrößern. Wenn wir es dagegen anderen überlassen – insbesondere der Politik und den Kostenträgern –, die weitere Entwicklung der psychiatrischen Landschaft zu steuern, müssen wir mit den Ergebnissen leben.
NiIs Greve ist Psychiater und Diplompsychologe und Vorsitzender des Psychosozialen Trägervereins Solingen. Bei dem Beitrag handelt es sich um die bearbeitete Fassung seines Vortrags auf der DGSP-Jahrestagung 2005 in Mannheim.
Literatur:
Aderhold, V./Alanen, Y./Hess, G./Hohn, P. (Hrsg.): Psychotherapie der Psychosen. Integrative Behandlungsansätze aus Skandinavien. Gießen (Psychosozial-Verlag) 2003.
Aderhold, V./Greve, N.: Was ist »Need-adapted Treatment«? – Das Modell zur bedürfnisangepassten Behandlung von Menschen mit schizophrenen Psychosen. In: Soziale Psychiatrie 1/2004. S. 4 ff.
*Die Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrischer Verbünde wurde inzwischen gegründet.